Haus St. Antonius
Grein a.d. Donau / Österreich
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Mag. Elisabeth Svoboda                                                                                                      

Tradition

Was verstehen katholische Christen unter der Tradition der Kirche? Für die einen gilt Tradition als einengender Zügel, der die Kirche von heute  an der Entfaltung hindert, als Bremsklotz, als ein Hinterherhinken hinter den Bedürfnissen der Gegenwart, auch als im Laufe der Geschichte angehäufter Ballast und dadurch als Verfälschung des Ursprünglichen. Man möchte die Kirche von einer solchen Tradition reinigen und befreien, indem man sich wieder auf die Urkirche besinnt und zu ergründen versucht, wie es denn mit der Kirche eigentlich wirklich war und sein soll.

Andere sehen in der Tradition gemäß der Lehre der Kirche neben der Heiligen Schrift gleichsam das zweite Standbein der Kirche. Tradition gilt als das, was sich im Laufe der Kirchengeschichte gebildet hat. Tradition wurde vom Hl. Geist gewirkt. Deshalb bewahren jene sie in Ehrfurcht.

Zu Pfingsten feiern wir mit der Sendung des Hl. Geistes gewissermaßen die Geburtsstunde der Kirche. Und Jesus gibt der beginnenden Kirche für ihre irdische Pilgerreise dieses Wort mit auf den Weg: "Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen ..." (Joh 16,12-13).

In der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung "Dei Verbum" des II. Vaticanums heißt es: "Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt: es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte (...); denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen." (DV 8).

Die Kirche steht also von Anfang an unter dem Zeichen der Entfaltung. Jesus gibt einen großen Ausblick auf die Zukunft der Kirche. Jesus gibt der beginnenden Kirche eine Vorahnung, daß sie sich noch entwickeln wird, wie es sich die Apostel und ersten Christen in ihrem damaligen zeitbedingten Horizont noch gar nicht vorstellen können. Die junge Kirche ist der Same – der Same und nicht die vollendete Pflanze.

Dies erkennen wir auch gleich deutlich daran, daß die Urkirche sehr bald verschiedene neu auftretende, noch nicht dagewesene, grundlegende Fragen ohne die sichtbare Gegenwart Jesu klären und entscheiden mußte – zum Beispiel, ob auch die Heidenchristen jüdische Gesetzesvorschriften übernehmen müssen (vgl. Apg. 15,1-29). Über vieles, was heute selbstverständlich ist, herrschte damals noch Unsicherheit und Unklarheit.

Und diese Entfaltung der Kirche geht immer weiter. Dem Glaubensleben der Kirche selbst erwachsen neue, reifere theologische Erkenntnisse. Und in jeder Generation wird die Kirche auch mit neuen Gegebenheiten in der Welt konfrontiert, mit denen sie sich auseinandersetzen muß. Neue Fragen entstehen, auf die eine Antwort gefunden werden muß. Und genau darin geschieht Überlieferung, Tradition: Solange die Kirche auf Erden unterwegs ist, ist sie unterwegs zu dieser "Fülle der göttlichen Wahrheit". Die Fülle, die volle Wahrheit liegt nie hinter uns, sondern stets noch vor uns. Wir haben sie nie bereits erreicht oder etwa "nicht mehr", sondern stets "noch nicht". Deshalb kann Tradition kein bloßes Bewahren sein, kein konservierendes Übernehmen. Sondern Tradition soll eine ständige aktive Weiterentwicklung, ein entfaltendes,  aktualisierendes, auf Zukunft gerichtetes Übernehmen der Glaubensinhalte sein.

Unter dieser Voraussetzung wird Tradition kein Ballast und keine Einengung mehr sein, und die Tradition wird zur kostbaren Möglichkeit der Freiheit zur Weiterentwicklung der Kirche.

Diese Weiterentwicklung hat jedoch nichts mit willkürlichen Neuerungen oder oberflächlicher Anpassung an die Welt zu tun. Sie soll auch kein Weglassen von wesentlichen Inhalten, kein Sich-Entfernen vom Ursprung sein. Auch die heranwachsende Pflanze trennt sich niemals von ihrem Samen, sondern sie ist selbst dieser entfaltete und sich entfaltende Same.

Wahre Tradition, wahres Tradieren ist etwas sehr Anspruchsvolles und erfordert eine tiefe Spiritualität und  Gottverbundenheit. Die fruchtbare, spirituelles Wachstum fördernde Dynamik der Tradition kann nur dann zustande kommen, wenn die Kirche auf den Hl. Geist horcht und ihn der Wegweiser in die Zukunft sein läßt.

Geschieht Entwicklung auf diese Weise, so wird auch keine Abwehr dieser Entwicklung, dieses Neuen mehr nötig sein.

Zu Pfingsten beginnt zugleich mit der Kirche auch die Tradition der Kirche. Seien wir wahre "Traditionalisten", indem wir mutig zur zukunftgerichteten Entfaltung des Samenkorns "Kirche"  beitragen, und hüten und bewahren wir das befreiende und Neugier auf die Zukunft weckende Wort Jesu: "Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen ...": Es gilt auch für unsere Gegenwart!

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